Szenisch, episch, historisch
Aber ist das Ganze wirklich so simpel? Dass das Präsens gar nicht so unflexibel ist, wie die einfache Bezeichnung als Gegenwartstempus ihm unterstellt, kann eine beispielhafte Unterhaltung veranschaulichen: »Gestern telefoniere ich mit meiner Oma, da erzählt sie mir glatt, sie besucht mich bald!« – »Wie schön, geh doch mit ihr ins Museum.« – »Aber das schließt doch immer schon so früh am Abend.«
Hier kommt auf einmal überall Präsens vor. Dabei geht es gar nicht um gegenwärtig stattfindende Dinge, sondern zeitlich gesehen um einiges mehr. Zum Beispiel wird gleich im ersten Satz das Präsens benutzt, um das vergangene Telefonat wiederzugeben. Obwohl das Telefongespräch mit der Oma schon vorbei ist, was wir durch das Wörtchen »gestern« bereits wissen, kann hier das Präsens benutzt werden. In diesem Fall spricht man auch vom szenischen Präsens, das dazu gebraucht wird, die Erzählung für die zuhörende Person unmittelbarer, lebhafter und damit vielleicht auch ein bisschen interessanter zu machen. Statt des szenischen Präsens hätte hier auch eine Tempusform, die die Vergangenheit anzeigt, verwendet werden können (also vorzugsweise Perfekt oder Präteritum: »Gestern telefonierte ich mit meiner Oma.« bzw. »Gestern habe ich mit meiner Oma telefoniert.«).
Verwandt mit dem szenischen ist auch das epische Präsens, das von Autorinnen und Autoren in Romanen oder fiktiven Erzählungen gern verwendet wird, obwohl der jeweilige Text eigentlich durchgehend im Präteritum geschrieben ist. Bei der Verwendung vom epischen Präsens gibt es einen plötzlichen Bruch im Tempus: »Sie betrat das Museum und pfiff leise vor sich hin, während sie die Gemälde betrachtete. Plötzlich fängt eines der Bilder Feuer.« Mit dem abrupten Tempuswechsel wird Spannung erzeugt, und das Ereignis rückt für die Lesenden direkt in unmittelbare Nähe. Sowohl das epische als auch das szenische Präsens sind Formen des historischen Präsens. Dieses findet man in Lehrbüchern, aber vor allem auch in Schlagzeilen vor: »Im Jahre 1907 öffnet das Pergamonmuseum zum ersten Mal.« Auch dieser Satz klingt für uns völlig akzeptabel. Der Eröffnungstermin liegt hier zwar schon über hundert Jahre zurück, aber trotzdem kann für die historische Sensation problemlos das Präsens verwendet werden.
Das Präsens ist ein Alleskönner
Aber kommen wir noch mal zurück zu unserem Telefonat mit Oma. »Sie besucht mich bald« ist ein Ereignis in der Zukunft, dies wird vor allem durch das Temporaladverb »bald« deutlich. Ausdrücke wie zum Beispiel »morgen«, »in einer Stunde« oder »nächstes Jahr« (bzw. »gestern«, »vor zwei Stunden« oder »letztes Jahr«) erleichtern es uns, Handlungen, die im Präsens geäußert werden, der Zukunft (bzw. der Vergangenheit) zuzuordnen. Anstelle der Präsensform könnten hier dann auch einfach Futur (bzw. Präteritum oder Perfekt) angewendet werden: »Sie wird mich bald besuchen.« Die Bedeutung bleibt dieselbe. Man kann schließlich festhalten: Die simple Annahme, das Präsens werde ausnahmslos für gerade Stattfindendes benutzt, müssen wir als falsch zurückweisen. Es mischt mit, egal, ob eine Handlung in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt, und beschränkt sich nicht auf den Gebrauch für Gegenwärtiges. In unserem täglichen Sprachgebrauch fällt uns die Vielfältigkeit dieser einfachen Zeitform kaum auf.
Was du heute kannst besorgen …
Was sucht das Präsens nun aber im letzten Satz unserer fiktiven Unterhaltung? In »Aber das Museum schließt doch immer schon so früh am Abend« bezeichnet das Präsens weder eine Handlung in der momentanen Gegenwart, in der Zukunft noch eine in der Vergangenheit. Gemeint ist vielmehr ein genereller, immer wiederkehrender Vorgang. Das Museum schließt nicht jetzt gerade früh am Abend, sondern jeden Tag aufs Neue. Das Präsens drückt hier in gewisser Weise Zeitlosigkeit aus und gibt Sätzen eine allgemeingültige Bedeutung, sodass man die Präsensform auch gern in Sprichwörtern verwendet. Wenn wir uns also an den allerersten Satz dieses Textes zurückerinnern, wird klar, warum wir auch hier Präsens verwenden: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.« Dieser gute Vorsatz hat einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit – und dennoch halten wir uns nicht daran. Vielleicht auch aus gutem Grund. So können wir uns jeden Tag aufs Neue vornehmen, der Prokrastination den Kampf anzusagen.